Die ForuM-Studie - Informationen - Reaktionen

Nachricht 30. Januar 2024

Inhaltswarnung –
In dieser Mitteilung werden Studien-Ergebnisse zur sexualisierten Gewalt in der Evangelischen Kirche thematisiert. Diese können für Betroffene belastend oder re-traumatisierend sein. Ansprechstellen für Betroffene von sexualisierter Gewalt finden Sie unter anderem auf diesen Webseiten:
https://www.praevention.landeskirche-hannovers.de/
https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/startseite

Der Forschungsverbund „ForuM – Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ arbeitet seit Ende 2020 an der Studie. In Auftrag gegeben wurde sie von der EKD mit ihren 20 Landeskirchen, die sich alle an der Finanzierung beteiligten. ForuM ist ein unabhängiges Forschungsprojekt, an dem verschiedene Hochschulen, Forschungsstellen und Institute aus ganz Deutschland beteiligt sind.

Während in öffentlichen Reaktionen vielfach die ermittelten oder hochgerechneten Fallzahlen im Fokus standen, richteten die Forschenden selbst den Blick stärker auf evangelische Strukturen und Rahmenbedingungen, die Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt begünstigen.

Sexualisierte Gewalt in evangelischen Zusammenhängen sei nicht reduzierbar auf lokale oder zeitliche Umstände, stellt die Studie fest. Vielmehr sei in allen Arbeitsfeldern von Kirche und Diakonie ein hohes Ausmaß sexualisierter Gewalt festgestellt worden. Die erlebte Gewalt habe in vielen Fällen schwere physische, psychische und soziale Folgen gehabt; Betroffene hätten zudem die Erfahrung machen müssen, von der Kirche alleingelassen oder aus sozialen Zusammenhängen verdrängt zu werden – insbesondere dann, wenn sie nicht zu Vergebung und Kooperation bereit waren.

Die ForuM-Studie zeigt eine Reihe von evangelischen Besonderheiten auf, die sexualisierte Gewalt begünstigen und die Aufarbeitung erschweren. Dazu gehören unklare Zuständigkeiten und eine „Diffusion von Verantwortung“ im evangelischen Föderalismus, der übermäßige Wunsch nach Harmonie, eine fehlende Konfliktkultur sowie die Selbsterzählung der eigenen Fortschrittlichkeit. Auch eine Grenzen- und Distanzlosigkeit im Umgang miteinander und das Selbstbild von „Geschwisterlichkeit“ hält die Studie als begünstigende Bedingungen fest.

Der Forschungsverbund spricht von 1.259 Beschuldigten und 2.225 Betroffenen, deren Fälle aufgrund des zur Verfügung gestellten Datenmaterials aus Landeskirchen und Diakonie in die Studie einflossen – nur die „Spitze der Spitze des Eisberges“, wie der Koordinator des Forschungsverbundes, Prof. Dr. Martin Wazlawik von der Hochschule Hannover, klarstellte. Klare Regeln zum Umgang mit bekannten Fällen sowie eine systematische Dokumentation fehlten bisher; Betroffene berichteten den Forschenden zudem von bewusster Verschleierung auf institutioneller oder Mitarbeitenden-Ebene.

Mit Blick in die Zukunft gibt die ForuM-Studie eine Reihe von Empfehlungen für Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt. Dabei müssten die spezifisch evangelischen Bedingungen in allen Bemühungen berücksichtigt werden; zudem sei eine breite öffentliche Debatte und Kommunikation sexualisierter Gewalt unter Einbeziehung der Betroffenen unerlässlich. Schutzkonzepte müssen für alle Einrichtungen in Kirche und Diakonie und für alle relevanten Bereiche passgenau und partizipativ entwickelt werden – auch das fordert die Studie ein. Nicht zuletzt geben die Forschenden Hinweise zur Aufnahme des Themenkomplexes Sexualität, Macht und Geschlecht in die Ausbildung kirchlicher Mitarbeitender.

Zur Website des Forschungsverbundes ForuM

Regionalbischof Friedrich Selter zu den Ergebnissen der ForuM-Studie

Am 25. Januar wurde der Abschlussbericht des Forschungsverbundes ForuM „Forschung und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ in Hannover veröffentlicht. Ihre Ergebnisse sind äußerst bedrückend und beschämend. Da ist vor allem das Leid so vieler Betroffener. Vertreter*innen von ihnen waren an der Studie beteiligt. Dafür gilt ihnen allerhöchster Respekt.
Die Studie legt das institutionelle Versagen der Evangelischen Kirche offen. Unserer Kirche werden Versäumnisse bei der Aufarbeitung und Zögerlichkeit bei der Anerkennung von erlittenem Leid nachgewiesen.
Bei der Veröffentlichung der Studie war vom Forschungsverbund deutlich kritisiert worden, dass die Landeskirchen nicht sämtliche Personalakten der Pastorinnen und Pastoren seit 1946 untersucht hätten. Unsere Landeskirche hat keine Akten absichtsvoll zurückgehalten, sondern war davon ausgegangen, dass mit den Forschenden verabredet wurde, sich bei der Aktenanalyse vorwiegend auf die Disziplinarakten zu konzentrieren. Das war ein Fehler. Wir müssen auch an dieser Stelle nacharbeiten.

Wir nehmen diese und weitere Kritikpunkte sehr ernst und stellen uns ihnen vorbehaltlos. Selbstkritisch müssen wir unsere kirchliche Kultur in vieler Hinsicht überdenken. Unsere vorrangige Aufgabe ist es, sorgfältig zu analysieren und diskutieren, wie wir unsere Strukturen zur Anerkennung, Aufarbeitung und Verhinderung von sexualisierter Gewalt verbessern können. Dabei sind wir auf die Zusammenarbeit mit betroffenen Menschen angewiesen und hoffen auf deren weitere Bereitschaft dazu.
Die ForuM-Studie ist ein entscheidender Schritt für verbesserte Aufarbeitung, Prävention und Intervention in unserer Landeskirche. Wir haben seit vielen Jahren strikte Interventionspläne für den Fall, dass uns Vorwürfe aus dem Bereich der sexualisierten Gewalt bekannt werden. Seit 2022 arbeiten wir intensiv an verpflichtenden Präventionsprogrammen und umfangreichen Schulungen für alle Mitarbeitenden. Die Kirchenkreise haben Schutzkonzepte sorgfältig erarbeitet und werden diese spätestens bis Jahresende auch in allen Gemeinden etablieren. In unseren KiTas und in der Jugendarbeit wurden entsprechende Konzepte schon vor längerer Zeit eingeführt. Anhand der Studie werden wir alle diese Maßnahmen jetzt neu auf ihre Effektivität hin prüfen und wo nötig verbessern. Denn Kirche muss für alle ein sicherer Ort sein.
Bei vielen, die sich mit unserer Kirche identifizieren, ist das Vertrauen in die Institution verständlicherweise erschüttert. Es ist an uns, dieses Vertrauen wiederzugewinnen. Daran arbeiten wir mit aller Demut und auch der Hoffnung auf Gottes Geistkraft für alle Gespräche, Planungen und Umsetzungen, die nun vor uns liegen. Denn wir wollen uns bessern. Wir wollen alles dafür tun, dass sexualisierte Gewalt in unserer Kirche keinen Raum findet und dass Betroffene schnelle und umfassende Unterstützung bekommen.

Friedrich Selter,
Regionalbischof für den Sprengel Osnabrück

Statement von Landesbischof Ralf Meister zur Veröffentlichung der ForuM-Studie

Der unabhängige Forschungsverbund ForuM hat heute seine Studie „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Landeskirche Hannovers hat in die Studie einen Fall von sexualisierter Gewalt eingebracht, den die Forschenden in den Teilprojekten A und B behandelt haben. Im Teilprojekt E hat die Landeskirche wie vom Forschungsverbund angefordert in zwei Teilschritten Daten von Fällen sexualisierter Gewalt zur Verfügung gestellt. Im Teilschritt 2 lagen dieser Datenübermittlung als Quellen Disziplinarakten und die entsprechenden Personalakten von Pfarrpersonen sowie weitere Akten und Meldungen bei der telefonischen Hotline der Landeskirche im Jahr 2010 zugrunde. Details zu den Quellen der Datenerhebung finden Sie unten.
Aus beiden Teilschritten im Teilprojekt E zusammen ergeben sich für die Landeskirche Hannovers 110 Fälle sexualisierter Gewalt mit 110 beschuldigten Personen und mindestens 140 betroffenen Personen, die zum Tatzeitpunkt minderjährig gewesen sind. Unter den 110 Beschuldigten sind 62 Pastoren. Eine differenzierte Darstellung der Fallzahlen stellt die Landeskirche hier zur Verfügung. Alle Fälle, in denen die beschuldigten Personen noch leben, hat die Landeskirche den Staatsanwaltschaften vorgelegt. In den Fällen, die bisher nicht öffentlich bekannt sind, macht die Landeskirche Details grundsätzlich nur nach Zustimmung der Betroffenen öffentlich.
Seit der Datenübergabe an den Forschungsverbund sind in der Landeskirche noch weitere zwölf Fälle aus dem Bereich der sexualisierten Gewalt bekannt geworden, unter den Beschuldigten ist eine Pfarrperson. Insgesamt sind der Landeskirche aktuell 122 bestätigte Fälle oder Verdachtsfälle auf Sexualisierte Gewalt bekannt. Unter den beschuldigten Personen sind 63 Pastoren (alle männlich).
Landesbischof Ralf Meister sagt:
„Die Zahl von 122 Fällen, die wir jetzt für die Landeskirche Hannovers vorlegen, bildet ausdrücklich nur einen Ausschnitt davon ab, wie viele Betroffene seit 1945 in unserer Landeskirche Sexualisierte Gewalt erlitten haben. Die Zahlen machen zudem deutlich, wie auch Strukturen gerade in der evangelischen Kirche sexualisierte Gewalt ermöglichen.
Die heute vorgestellte ForuM-Studie legt den Fokus darauf, die Faktoren zu identifizieren und zu untersuchen, die in den evangelischen Kirchen und in der Diakonie in der Vergangenheit und bis heute sexualisierte Gewalt ermöglichen und Aufklärung verhindert oder verzögert haben. Die in der Studie genannten Zahlen und die aktuelle Diskussion um die Zahlen dürfen nicht den Blick auf die Beiträge der Betroffenen verstellen.
Die Strukturen, die in unseren Landeskirchen einer konsequenten Aufklärung entgegenstanden und -stehen, wurden untersucht. Wichtig war, dass die Perspektive der Betroffenen dabei neben der Aktenlage maßgeblich im Fokus stand. Mit ihnen gemeinsam müssen wir jetzt zunächst sorgfältig die Ergebnisse und Empfehlungen analysieren. Die Schlussfolgerungen dieser Analyse sind grundlegend für die weitere Umsetzung von Aufarbeitung und Prävention.
Wir müssen in unserer Kirche weiter an einer Kultur arbeiten, in der Sexualisierte Gewalt keinen Raum hat und in der Betroffene ermutigt werden, Unterstützung in Anspruch zu nehmen.“

Hinweis zur Datenerhebung für das Teilprojekt E
Für die Datenerhebung zum zweiten Teilschritt im Teilprojekt E hat die Landeskirche Hannovers die folgenden Quellen berücksichtigt:
•    Quelle 1: alle Anträge der Unabhängigen Kommission zur Anerkennung des erfahrenen Leids (Anerkennungsleistungen bis 2020)
•    Quelle 2: alle Anträge der Anerkennungskommission bis 05.2022
•    Quelle 3: alle Disziplinarakten der Landeskirche bis 1999
•    Quelle 4: alle Disziplinarakten der Landeskirche ab 1999
•    Quelle 5: Kündigungsliste aller privatrechtlichen Mitarbeitenden
•    Quelle 6: Statistik der telefonischen Hotline der Landeskirche aus 2010
Nach Identifizierung eines Falls wurden die korrespondierenden Personalakten der beschuldigten Personen für die weitere Recherche hinzugezogen.
Differenzierte Darstellung der Fallzahlen
Eine differenzierte Darstellung der Fallzahlen finden Sie hier.

Informationen zu den Themen Prävention, Intervention und Aufarbeitung in der Landeskirche Hannovers gibt es auf der Internetseite der Fachstelle Sexualisierte Gewalt der Landeskirche Hannovers.